Frage von erheblicher Bedeutung: Die Veröffentlichung von Kinderfotos im Internet nur nach Einwilligung beider Elternteile zulässig

Das Posten von Kinderfotos in digitalen Medien - von Facebook über Snapchat bis Tiktok - sehen manche Eltern zu Recht sehr kritisch. Was passiert, wenn Eltern unterschiedliche Auffassungen
darüber haben, zeigt das folgende Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf (OLG).
Im betreffenden Fall waren die getrennt lebenden Eltern gemeinsam sorgeberechtigt. Die neue
Lebensgefährtin des Vaters nahm Fotos der Kinder der Eheleute auf und verbreitete sie später auf
Facebook und Instagram zur Werbung für ihren Friseursalon. Dabei stimmte der Kindesvater einer
solchen Veröffentlichung zu - die Kindesmutter lehnte derartige Veröffentlichungen jedoch ab. Sie
forderte die Frau auf, die veröffentlichten Fotos von den Plattformen zu löschen. Um weitere Uploads
zu verhindern, forderte die Kindesmutter die Lebensgefährtin ihres Ex-Mannes zudem auf, ihr eine
unterzeichnete Unterlassungserklärung zukommen zu lassen. Statt dieser Aufforderung
nachzukommen, stellte diese jedoch sogar noch weitere Fotos der Kinder in ihre
Social-Media-Accounts ein.
Generell landet eine solche Angelegenheit als Sorgerechtsfrage vor dem Familiengericht. Bei
getrennt lebenden Eltern wird eine derartige Rechtsfrage an der sogenannten
Alleinentscheidungsbefugnis in Alltagsangelegenheiten und Betreuungsangelegenheiten aufgehängt.
Diese ermöglicht es jedem Elternteil, für die gemeinsame Zeit mit dem Kind allein entscheiden zu
können.
Dies lehnte das OLG in diesem Fall aber ab. Denn es handele sich hierbei nicht um eine Alltagsfrage,
sondern um eine Frage von erheblicher Bedeutung. Dabei sei ausschlaggebend, dass sich die
Auswirkungen nicht auf die mit dem Elternteil verbrachte Zeit beschränken. Für die Verbreitung von
Fotos des Kindes in digitalen sozialen Medien ist daher die Einwilligung beider sorgeberechtigter
Elternteile erforderlich (§ 22 Kunsturhebergesetz und Art. 6 Absatz 1 Buchstabe a
Datenschutz-Grundverordnung). Kommt es hingegen zu keiner Einigung in dieser Frage, erhält jener
Elternteil für den vorliegenden Sachverhalt die alleinige elterliche Sorge, der sich gegen Kinderfotos
im Internet ausspricht, um es somit auch dem anderen verbieten zu können.
Hinweis: Denn es entspreche dem Kindeswohl am besten, wenn derjenige entscheidet, der die
Gewähr für eine Verhinderung der weiteren Bildverbreitung bietet.
Quelle: OLG Düsseldorf, Beschl. v. 20.07.2021 - II-1 UF 74/21


Unterhaltskasse geht leer aus: Staatskasse kann keinen Regress gegen gutverdienende Großeltern geltend machen

Wenn unterhaltspflichtige Eltern den Mindestunterhalt nicht aufbringen können, lohnt sich der Blick
in die Generation der Großeltern. Doch dass selbst dann unter gewissen Umständen nichts für den
Unterhaltsberechtigten dabei herauskommt, zeigt das folgende Urteil des Bundesgerichtshofs.
Im Fall aus Leipzig konnte der Kindesvater unter Beachtung seines angemessenen Selbstbehalts nur
100 EUR Kindesunterhalt aufbringen - den Rest übernahm die Unterhaltsvorschusskasse. Diese wollte den
Vater in Regress nehmen, weil ihm nur der notwendige Selbstbehalt verbleiben dürfe.
Es ging dabei bereits im vom Oberlandesgericht Dresden behandelten Fall um die Rechtsfrage, ob die
sogenannte gesteigerte Unterhaltspflicht der Eltern gegenüber ihren minderjährigen Kindern auch dann
bestehe, wenn finanziell leistungsfähige Großeltern vorhanden seien. Diese Frage ist unter anderem dafür
von Bedeutung, ob ein erwerbstätiger Elternteil für den Kindesunterhalt sein oberhalb des notwendigen
Selbstbehalts (derzeit 1.160 EUR) liegendes Einkommen einzusetzen hat oder nur das Einkommen
oberhalb des angemessenen Selbstbehalts (derzeit 1.400 EUR).
Verwandte in gerader Linie haben einander Unterhalt zu gewähren, wobei die Unterhaltspflicht der
Eltern für ihre Kinder derjenigen der Großeltern für ihre Enkel vorgeht. Unterhaltspflichtig ist nicht, wer
seinen angemessenen Unterhalt gefährden würde; der daraus abgeleitete angemessene Selbstbehalt eines
Elternteils gegenüber seinem Kind betrug seinerzeit 1.300 EUR. Allerdings trifft Eltern minderjähriger
Kinder eine gesteigerte Unterhaltspflicht, weshalb ihnen insoweit nur der notwendige Selbstbehalt von
seinerzeit 1.080 EUR zusteht. Diese gesteigerte Verpflichtung tritt jedoch dann nicht ein, wenn ein anderer
unterhaltspflichtiger Verwandter vorhanden ist.
Mit Erfolg verwies der Kindesvater hier daher auf seine Eltern. Diese verdienten als Polizeibeamter
bzw. Postzustellerin knapp 3.500 EUR und 2.300 EUR netto monatlich - ohne nennenswerte
Abzugspositionen. Damit war der Großvater auch mit einem erweiterten Sockelselbstbehalt (seinerzeit
1.800 EUR zzgl. der Hälfte des übersteigenden Einkommens wie beim Elternunterhalt) leistungsfähig und
kam mit der "Ersatzhaftung" zugunsten des Kindesvaters in Betracht.
Das führte dazu, dass für den Kindesvater die Grundsätze der gesteigerten Unterhaltspflicht nicht
griffen. Er konnte sich mit dem Hinweis auf die Leistungsfähigkeit der eigenen Eltern gegen Ansprüche
der Unterhaltsvorschusskasse wehren. Dazu musste er auch nicht darlegen, ob auch die Großeltern
mütterlicherseits leistungsfähig wären. Für den Ausschluss der erweiterten Unterhaltspflicht genüge es,
dass der barunterhaltspflichtige Elternteil einen anderen unterhaltspflichtigen Verwandten nachweist. Der
Clou: Wegen der Unmöglichkeit des Regresses der Staatskasse gegen die Großeltern diente der Vortrag
lediglich zur Erhöhung des Selbstbehalts des Kindesvaters selbst - nicht jedoch dazu, dass die Großeltern
wirklich etwas zahlen mussten. Dass dies dem Gesetzgeber beim Erlass des Unterhaltsvorschussgesetzes
möglicherweise nicht bewusst war, spielte hierbei keine Rolle.
Hinweis: Wäre der Anspruch nicht auf die Unterhaltsvorschusskasse übergegangen, hätten die
Großeltern den Unterhalt gegebenenfalls zahlen müssen.

Quelle: BGH, Beschl. v. 27.10.2021 - XII ZB 123/21
Fundstelle: www.bundesgerichtshof.de

 

Seltene Nebenwirkungen unerheblich: Coronaschutzimpfung wird bei gesetzlich Betreuten als nicht als genehmigungspflichtig angesehen

Sie ist für viele Menschen derzeit eine der entscheidenden Fragen zur Bekämpfung der
Coronapandemie: Impfen oder nicht? So schwierig diese Entscheidung für einige zu sein scheint, wenn es
um ihre eigene Impfwilligkeit geht: Wie ist hier die rechtliche Lage von gesetzlich bestellten Betreuern,
wenn diese die Frage für andere zu entscheiden haben? Das Landgericht Stuttgart (LG) gibt im Folgenden
darauf Antwort.
Ein Betreuer wollte nicht allein entscheiden, ob seine Betreute gegen Corona geimpft wird, sondern
sich mit der Genehmigung des Betreuungsgerichts nach § 1904 BGB absichern. Laut dieser Vorschrift
sind ärztliche Eingriffe dann genehmigungspflichtig, sobald die Maßnahme mit der begründeten Gefahr
verbunden ist, dass die betreute Person stirbt oder einen schweren und länger dauernden gesundheitlichen
Schaden erleidet. Es muss sich dabei um eine ernstliche, konkrete Erwartung solcher Folgen aufgrund des
besonders gelagerten Einzelfalls handeln. Seltene Nebenwirkungen lösen die Genehmigungspflicht nicht
aus.
Hier jedoch stützten sich sowohl das erstinstanzliche Amtsgericht als auch das LG auf den
Sicherheitsbericht des Paul-Ehrlich-Instituts, nach dem es nur in Einzelfällen zu Nebenwirkungen und
Komplikationen komme. Auch die Ärztin der Betreuten habe keine persönlichen höheren Risiken gesehen.
Die Einwilligung des Betreuers in die Coronaschutzimpfung wird daher in Fachkreisen entsprechend den
oben dargestellten Grundsätzen als nicht als genehmigungspflichtig angesehen - so auch nicht im Fall des
LG.
Hinweis: Dieses Prinzip greift natürlich nur, wenn - wie hier - seitens des behandelnden
Fachpersonals keine weiteren Bedenken zu einer Coronaschutzimpfung vorliegen.
Quelle: LG Stuttgart, Beschl. v. 30.08.2021 - 10 T 173/21
zum Thema: Familienrecht

 

Dienstwagen im Unterhalt: Keine steuerliche Geltendmachung von Kilometerkosten, wenn man mit dem Firmenwagen zur Arbeit fährt

Wer sich trennt, muss sich bei der Unterhaltsberechnung unter Umständen auch Sachwerte anrechnen
lassen. Das Oberlandesgericht Brandenburg (OLG) musste im Folgenden daher auch die Frage
beantworten, ob der Dienstwagen als "Sachbezug" gilt, der das Einkommen erhöht.
Im betreffenden Fall ist der Ehemann als Bauleiter angestellt und hat von seinem Arbeitgeber ein
Dienstfahrzeug zur Verfügung gestellt bekommen, das er nur für rein dienstliche Zwecke nutzen darf.
Daneben verfügt er über einen privaten Pkw.
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Laut OLG ist die enge Nutzungserlaubnis hier der springende Punkt. Denn der Dienstwagen wäre nur
dann als Sachbezug zu berücksichtigen, wenn dieser private Kosten einsparen würde. Das ist hier nicht der
Fall, weil die Privatnutzung arbeitsvertraglich nicht erlaubt war. Wird der Sachwert (z.B. ein
Firmenwagen) gemäß den vertraglichen Regelungen nur geschäftlich genutzt, scheidet eine Erhöhung des
unterhaltsrechtlichen Einkommens aus. Allerdings kann eine Berücksichtigung noch indirekt darüber
erfolgen, dass ein ansonsten anfallender beruflich bedingter Aufwand entfällt. Wenn der Dienstwagen für
die Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte unentgeltlich genutzt wird, kann man nicht zusätzlich
noch berufsbedingte Kosten geltend machen. Hier hatte der Ehemann zwar behauptet, er nutze für diese
Wege nicht den Dienstwagen, sondern seinen Privatwagen, aber dem OLG fiel in den Steuerunterlagen
auf, dass er dort die Wegekosten nicht abgesetzt hatte. Dies deute als Indiz darauf hin, dass er den
Dienstwagen auch für Fahrten zwischen Wohn- und Firmensitz benutzt habe. Im Ergebnis wurde ihm
daher nicht der Dienstwagen als Sachbezug nach der sogenannten 1-%-Methode als Einkommen
zugerechnet, aber dadurch könne er auch keine Kilometerkosten beim Unterhalt geltend machen.
Hinweis: Da er noch andere beruflich bedingte Aufwendungen hatte, konnte er aber noch die
5-%-Pauschale dafür abziehen, die die Unterhaltsleitlinien mancher Oberlandesgerichte dafür vorsehen.
Quelle: OLG Brandenburg, Beschl. v. 30.08.2021 - 9 UF 239/20


Eigenheim im Trennungsjahr: Billigkeitskorrektur zur Nutzungsentschädigung wegen gemeinsamer Kinder im Haus

Das Kind ist volljährig, die Ehe kaputt - diese Konstellation brachte den folgenden Fall vor das
Oberlandesgericht Zweibrücken (OLG). Und dieses hatte die Frage zu klären, wie viel
Nutzungsentschädigung die ausgezogene Frau von ihrem Mann, bei dem das gemeinsame Kind verblieb,
für ihr Eigenheim erwarten könne.
Dabei ging es um ein Anwesen mit einer durchaus beachtlichen Wohnfläche von 230 Quadratmetern,
zwei Carports, Pool, Grillhaus im Garten und Wintergarten mit Whirlpool. Es gehört allein der Ehefrau,
die aber ausgezogen war, während ihr Ehemann und die gerade volljährig gewordene Tochter, die die
Schule abgebrochen hatte und kein Geld verdiente, dort noch wohnten. Die Frau, die für die Tochter nichts
zahlte, begehrte mit Blick auf die gehobene Ausstattung des Hauses vom Ehemann nach Mietspiegel
2.000 EUR monatliche Nutzungsentschädigung.
Das OLG klärte zunächst, dass der Anspruch dem Grunde nach bestehe, auch wenn es keine
gerichtliche Ehewohnungszuweisung gegeben habe, sondern nur das Herbeiführen der Trennung durch
Auszug, denn es handele sich um eine einvernehmliche Wohnungszuweisung. Im nächsten Schritt wurde
festgestellt, dass der Mann sich erst ab Zugang der schriftlichen Zahlungsaufforderung in Verzug befand
und nichts rückwirkend zahlen müsse. Dann prüfte das Gericht, dass die Nutzungsentschädigung nicht
durch eine Unterhaltsberechnung verdrängt worden sei. Denn wenn der Wohnvorteil bereits im Rahmen
der Unterhaltsbemessung eingerechnet wurde, gibt es nicht auch noch Nutzungsvergütung.
Schließlich befand das OLG der Höhe nach die von der Frau bezifferten 2.000 EUR monatlich nach
dem Mietspiegel zwar objektiv zutreffend - allerdings richtete sich das OLG nicht strikt nach dem
Mietspiegel, denn schließlich gebe dieser die Obergrenze an. Diese sei aber unter
Billigkeitsgesichtspunkten unter Berücksichtigung der gesamten Lebensverhältnisse der Ehegatten gegebenenfalls zu korrigieren. Zudem komme vor Ablauf des ersten Trennungsjahres ohnehin nicht der
volle Mietwert, sondern lediglich die für eine angemessene kleinere Wohnung zu entrichtende Miete in
Betracht - und dies waren hier 500 EUR Nutzungsentschädigung im Monat. Und selbst danach schuldete
der Ehemann der Frau nur 1.000 EUR monatlich, weil er sich den Nutzungswert an der Immobilie mit der
gemeinsamen Tochter (im Einvernehmen mit der Mutter) teilte und für diese keinen Unterhalt erhielt.
Hinweis: Die bei einer Trennung zu berücksichtigenden gegenseitigen Verpflichtungen sind ein
kompliziertes Konstrukt - vor allem, wenn gemeinsame Kinder mehrheitlich bei einem der Elternteile
verbleiben. Nutzen Sie daher die Beratung durch Spezialisten des Familienrechts, und zwar rechtzeitig.
Quelle: OLG Zweibrücken, Beschl. v. 06.07.2021 - 2 UF 61/21
Fundstelle: www.landesrecht.rlp.de

 

Kein erforderlicher Informationswert: Bundesarbeitsgericht erteilt Arbeitszeugnis in Tabellenform eine Absage

Rechtsstreitigkeiten über Arbeitszeugnisse gibt es bereits viele. Dieser aktuell veröffentlichte Fall
des Bundesarbeitsgerichts (BAG) bringt eine bislang neue Facette dieses arbeitsrechtlichen Zankapfels
zutage: Muss sich ein Arbeitgeber mit einer Benotung wie aus Schulzeiten zufriedengeben? Lesen Sie hier
die Antwort.
Eine Arbeitgeberin erteilte einem Elektriker nach Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses ein
Arbeitszeugnis. Dieses war tabellarisch aufgebaut und mit einzelnen Noten versehen - es sah aus wie ein
Schulzeugnis. Der Elektriker meinte nun, seine ehemalige Arbeitgeberin habe seinen Anspruch auf
Erteilung eines qualifizierten Zeugnisses damit noch nicht erfüllt, und klagte ein Zeugnis ein.
Das BAG meinte, ein Arbeitgeber erfüllt den Zeugnisanspruch eines Arbeitnehmers nicht dadurch,
dass er Leistung und Verhalten des Arbeitnehmers im Arbeitsverhältnis in einer tabellarischen
Darstellungsform beurteilt. Die zur Erreichung des Zeugniszwecks erforderlichen individuellen
Hervorhebungen und Differenzierungen in der Beurteilung lassen sich nur durch ein im Fließtext
formuliertes Arbeitszeugnis angemessen herausstellen.
Im Rahmen der Leistungsbeurteilung hat der Arbeitgeber darzustellen, wie der Arbeitnehmer die ihm
übertragenen Aufgaben erledigt habe - anhand von Bewertungskriterien wie Fähigkeiten, Kenntnisse,
Fertigkeiten, Geschicklichkeit und Sorgfalt sowie Einsatzfreude und Einstellung zur Arbeit. Bei den
Angaben über das Verhalten von Beschäftigten ist insbesondere deren Verhältnis gegenüber Mitarbeitern
und Vorgesetzten sowie ihr Einfügen in den betrieblichen Arbeitsablauf zu beurteilen. Ein Zeugnis, in
dem eine Vielzahl einzelner Bewertungskriterien gleichrangig nebeneinander aufgeführt und mit
"Schulnoten" bewertet wird, enthält nicht den hierfür erforderlichen Informationswert. Schließlich
verlieren somit prägende Merkmale im Zusammenhang mit den übrigen Bewertungskriterien ihre
Bedeutung. Besondere Eigenschaften, Kenntnisse oder Fähigkeiten, die den Arbeitnehmer für neue
Arbeitgeber interessant machen könnten, lassen sich daraus nicht ableiten. Folglich muss die
Arbeitgeberin ein neues Zeugnis erstellen.


Hinweis: Die Beurteilung in einem Arbeitszeugnis mit Schulnoten und der Aufbau des Zeugnisses in
Tabellenform ist also unzulässig. Der Arbeitgeber hat in einem Fließtext die Leistungen und das Verhalten
des Arbeitnehmers individuell zu beurteilen.
Quelle: BAG, Urt. v. 27.04.2021 - 9 AZR 262/20
Fundstelle: www.bundesarbeitsgericht.de
zum Thema: Arbeitsrecht

 

COVID-19-Infektion: Ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist für Nichtanrechnung genommenen Urlaubs unabdingbar


Der folgende Fall in Sachen "Coronapandemie" beruht nicht etwa auf Trotz und Wut, sondern
mutmaßlich auf reiner Unwissenheit. Vielen Arbeitnehmern, die bei einer angeordneten Quarantäne den
formalen Unterschied zwischen Erkrankung und Arbeitsunfähigkeit nicht kennen, könnte es ähnlich
ergehen, wenn sie über das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf (LAG) nicht Bescheid wissen.
Eine Arbeitnehmerin befand sich in der Zeit vom 10.12.2020 bis zum 31.12.2020 im Urlaub. Nach
einem Kontakt mit ihrer mit COVID-19 infizierten Tochter ordnete das Gesundheitsamt zunächst eine
häusliche Quarantäne bis zum 16.12.2020 an. Als die Arbeitnehmerin am 16.12.2020 erneut getestet
wurde, wurde bei ihr eine Infektion mit COVID-19 festgestellt. Daraufhin ordnete das Gesundheitsamt
erneut eine häusliche Quarantäne bis zum 23.12.2020 an. Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung durch
einen Arzt ließ sich die Arbeitnehmerin jedoch nicht ausstellen. Dann verlangte sie von ihrer
Arbeitgeberin die Nachgewährung von zehn Urlaubstagen für die Zeit vom 10.12.2020 bis 23.12.2020. Sie
meinte, diese seien wegen der durch das Gesundheitsamt verhängten Quarantäne nicht verbraucht worden.
Die Arbeitgeberin war hingegen der gegenteiligen Ansicht, dass ihre Angestellte den Urlaubsanspruch
auch in diesem Zeitraum erfüllt habe.
Laut LAG unterscheidet das Bundesurlaubsgesetz in seinem § 9 zwischen Erkrankung und darauf
beruhender Arbeitsunfähigkeit. Beide Begriffe sind nicht gleichzusetzen. Danach erfordert die
Nichtanrechnung der Urlaubstage bei bereits bewilligtem Urlaub, dass durch ein ärztliches Zeugnis eine
Arbeitsunfähigkeit durch eine Erkrankung nachgewiesen ist - und genau daran fehlte es hier. Aus dem
Bescheid des Gesundheitsamts ergab sich lediglich, dass die Klägerin an COVID-19 erkrankt war. Die
formale Beurteilung der Arbeitsfähigkeit der Klägerin durch einen Arzt wurde jedoch nicht vorgenommen.
Hinweis: Arbeitnehmer brauchen also eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, wenn bei
einer nachgewiesenen COVID-19-Infektion eine Nichtanrechnung auf den Urlaub erfolgen soll.
Quelle: LAG Düsseldorf , Urt. v. 15.10.2021 - 7 Sa 857/21
Fundstelle: www.justiz.nrw.de

 

Nach Pfändungs- und Überweisungsbeschluss: Minderung des pfändbares Einkommens durch Entgeltumwandlung rechtens

Wenn es um Geld geht, können sich Familien- und Arbeitsrecht schnell überschneiden. Mit dem
folgenden Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zur Frage einer Lohnpfändung werden sich viele
Schuldner einer solchen Pfändung entziehen können - und das auf einem völlig legalen Weg.
Eine Arbeitnehmerin musste an ihren Ex-Mann 23.000 EUR bezahlen, was beide Parteien auch
entsprechend vereinbart hatten. Als die Frau nicht bezahlte, beantragte der Mann eine Lohnpfändung. Erst
nach der Zustellung des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses beim Arbeitgeber schloss die Frau mit
ihrem Arbeitgeber eine Entgeltumwandlungsvereinbarung. Dadurch flossen von ihrem Gehalt ab sofort
248 EUR pro Monat in eine Direktversicherung, und eben jener Betrag blieb bei der Berechnung des
pfändbaren Einkommens daher unberücksichtigt. Der Ehemann meinte nun, diese 248 EUR stünden ihm
zu, und er verklagte den Arbeitgeber seiner Ex-Gattin auf Zahlung - dies jedoch vergeblich.
Laut Urteil des BAG haben Arbeitnehmer nämlich einen Rechtsanspruch auf eine
Entgeltumwandlung in eine Direktversicherung zur Rentenversicherung von bis zu 4 % der
Beitragsbemessungsgrenze. Der Arbeitgeber hatte hier also nur seine Pflicht erfüllt.
Hinweis: Die Vollstreckung aus Titeln ist 30 Jahre lang möglich. Welche
Vollstreckungsmöglichkeiten für den Gläubiger bestehen, erklärt der Rechtsanwalt des Vertrauens.
Quelle: BAG, Urt. v. 14.10.2021 - 8 AZR 96/20
Fundstelle: www.bundesarbeitsgericht.de

Stets einsatzbereit? Laut EuGH haben auch Feuerwehrleute Anspruch auf Ruhepausen, die den Namen verdienen

Der folgende Fall begann zwar in Tschechien, ist aber durchaus auch auf Deutschland übertragbar.
Denn hier musste der Europäische Gerichtshof (EuGH) auf Antrag des Stadtbezirksgerichts Prag über die
Bedeutung der "Pause" von Arbeitnehmern befinden. Die zentrale Frage hierbei war, ob eine Ruhepause
ihren Sinn und Zweck auch dann erfüllen kann, wenn der Arbeitnehmer stets spontan und innerhalb
kürzester Zeit einsatzbereit sein müsse.
Ein ehemaliger Betriebsfeuerwehrmann der Prager Verkehrsbetriebe verlangte von seinem
Arbeitgeber die Bezahlung von Pausen. Er musste pro Tag in zwei 30-minütigen Pausen, die ihm während
seines Schichtdienstes zustanden, binnen zwei Minuten einsatzbereit sein. Daher meinte er, diese Pausen
seien als Arbeitszeit anzusehen und müssten entsprechend vergütet werden - selbst dann, wenn es zu
keinem Einsatz gekommen sei.
Das Stadtbezirksgericht Prag hat sich wegen der Auslegung der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88 an den
EuGH gewandt. Der entschied nun, dass die einem Arbeitnehmer täglich gewährten Ruhepausen, in denen
er nötigenfalls innerhalb von zwei Minuten einsatzbereit sein müsse, als "Arbeitszeit" im Sinne der
Richtlinie 2003/88/EG eingestuft werden können. Ob das tatsächlich so ist, muss allerdings noch das
tschechische Gericht entscheiden. Dabei kommt es auf die Gesamtwürdigung der Umstände an -

insbesondere auch darauf, ob derartige Einschränkungen dazu führen, dass von einer Pause gar nicht mehr
gesprochen werden könne.
Hinweis: Pausen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben im Vorhinein festzustehen. So
sieht es das Arbeitszeitgesetz vor. Andernfalls handelt es es sich nicht um Pausen, und die Zeiten sind zu
bezahlen.
Quelle: EuGH, Urt. v. 09.09.2021 - C-107/19
Fundstelle: www.curia.europa.eu

 

Durchführungsanspruch durch Leistungsklage: Gewerkschaft klagt Einhaltung des Haustarifvertrags für arbeitnehmerähnliche Mitglieder ein

Dass sich die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft für Arbeitnehmer vielfach auszahlt, haben bereits
zahlreiche Arbeitsrechtsurteile bewiesen. Dass eine Gewerkschaft auch die Durchführung eines
Tarifvertrags einklagen kann, zeigt im Fall eines Haustarifvertrags nun auch das folgende Urteil des
Bundesarbeitsgerichts (BAG).
Bei einer Landesrundfunkanstalt existierten Haustarifverträge - also Tarifverträge, die nur für diesen
Arbeitgeber gelten. Darin wurde unter anderem die Vergütung arbeitnehmerähnlicher Personen geregelt.
Die Landesrundfunkanstalt vergütete ab 2016 die bei ihr als "pauschalierte Tagesreporter" tätigen
arbeitnehmerähnlichen Personen nach Tagespauschalen, nachdem sie bislang nach sogenannten
Honorarkennziffern entlohnt wurden. Die Gewerkschaft hielt das für rechtswidrig und verlangte die
Durchführung der Tarifverträge durch Anwendung der Honorarkennziffern gegenüber allen
arbeitnehmerähnlichen Personen - zumindest bei Gewerkschaftsmitgliedern.
Laut BAG steht der Gewerkschaft gegen einen Arbeitgeber ein schuldrechtlicher Anspruch auf
Durchführung eines zwischen ihnen geschlossenen Haustarifvertrags zu. Dieser Durchführungsanspruch
kann durch eine entsprechende Leistungsklage geltend gemacht werden und ist auf die bei dem
Arbeitgeber beschäftigten Gewerkschaftsmitglieder begrenzt. So hatte laut Ansicht der Richter auch in
diesem Fall die Vergütung der Tagesreporter vorrangig nach den speziellen Honorarkennziffern zu
erfolgen.
Hinweis: Bisher mussten Arbeitnehmer ihre Ansprüche aus Tarifverträgen selbst durchsetzen. Das ist
nun zumindest für Haustarifverträge anders. Allerdings kann die Gewerkschaft dabei nur für ihre
Mitglieder handeln.
Quelle: BAG, Beschl. v. 13.10.2021 - 4 AZR 403/20
Fundstelle: www.bundesarbeitsgericht.de

 

Sinnloses Tierleid: Wer beim Tiertransport am Fahrpersonal spart, darf wegen unnötiger Fahrtverzögerung nicht liefern

Der sogenannte Beschleunigungsgrundsatz soll nach europarechtlichen Regeln Tieren Verletzungen
oder unnötige Leiden ersparen. Im folgenden Fall musste sich das Verwaltungsgericht Osnabrück (VG)
bezüglich eines Eilantrags mit Sinn und Zweck dieses Grundsatzes befassen und sein Urteil fällen.
Der Landkreis hatte hier bereits den Antrag des Transportunternehmens zur Abfertigung und
Genehmigung des beabsichtigten Transports von 448 Zuchtrindern nach Marokko abgelehnt. Die
Begründung des Landkreises waren plausibel: Die geplanten Ruhepausen von je neuneinhalb Stunden in
Frankreich und Spanien, die als Lenkzeitpausen während des insgesamt fünf Tage und acht Stunden
dauernden Transports eingelegt werden sollten, verstießen gegen den Grundsatz, die Beförderungsdauer so
kurz wie möglich zu halten und Verzögerungen zu vermeiden. Da die Tiere während dieser Pausen im
Fahrzeug verbleiben sollten und der Transporteur es abgelehnt hatte, einen zweiten Fahrer je Lkw
vorzuhalten, wurde der Transport nicht genehmigt.
Das VG lehnte den hiergegen gerichteten Eilantrag ab, da die Beförderung der Tiere mit nur einem
Fahrer je Lkw dem sich aus europarechtlichen Vorgaben ergebenden Grundsatz widerspreche, die
Beförderungsdauer so kurz wie möglich zu halten.
Hinweis: Zu beachten waren die allgemeinen europarechtlichen Bedingungen für den Transport von
Tieren. Danach darf ein Transport von Tieren nicht durchgeführt werden, wenn den Tieren dabei
Verletzungen oder unnötige Leiden zugefügt werden könnten.
Quelle: VG Osnabrück, Beschl. v. 01.10.2021 - 6 B 78/21
zum Thema: Verkehrsrecht

 

Sichtfahrgebot für Radler: Hälftiges Mitverschulden einer Radfahrerin bei Sturz über gut sichtbares Erdkabel

Der Straßenverkehr ist bekanntlich voller Tücken. Wenn eine Radfahrerin zu Fall kommt, weil ein
Erdkabel quer über dem Radweg lag, muss sie damit rechnen, nicht zu 100 % entschädigt zu werden.
Warum, das erläutert im folgenden Fall das Oberlandesgericht Hamm (OLG).
Eine Radfahrerin stürzte über ein quer zum Radweg liegendes 4 cm dickes Erdkabel. Eine Warnung
durch einen Mitarbeiter der zuständigen Firma gab es ebenso wenig wie ein entsprechendes
Hinweisschild. Aufgrund der durch den Sturz erlittenen Verletzungen klagte die Radfahrerin auf Zahlung
von Schmerzensgeld. Das Landgericht Essen (LG) sprach ihr unter Berücksichtigung eines
Mitverschuldens am Unfall in Höhe von 50 % Schmerzensgeld zu. Gegen diese Entscheidung legte die
Radfahrerin Berufung ein. Sie wollte ein höheres Schmerzensgeld.
Das OLG jedoch bestätigte die Entscheidung des LG. Der Klägerin stehe kein höheres
Schmerzensgeld als die 3.000 EUR zu. Grundsätzlich hafte zwar der Beklagte wegen des Unfalls, weil
seine Mitarbeiter die Sicherstellung des seitlichen Kabelverlaufs oder zumindest eine Warnung
herannahender Radfahrer pflichtwidrig unterlassen haben. Sie haben nicht darauf vertrauen dürfen, dass
Radfahrer jeglichen von dem losen und daher potentiell rollenden Kabel ausgehenden Gefahren selbst
rechtzeitig begegnen können. Dennoch war der Radfahrerin ein Mitverschulden von 50 % anzulasten, da
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sie gegen das Sichtfahrgebot verstoßen habe. Insbesondere war ihr vorzuwerfen, dass sie mit
unverminderter Geschwindigkeit weiterfuhr, obwohl das Kabel weder schwer erkennbar war noch
überraschend auftauchte.
Hinweis: Das Sichtfahrgebot gebietet es nicht, dass Radfahrer ihre Geschwindigkeit auf solche
Objekte einrichten, die sich zwar bereits im Sichtbereich befinden, mit denen sie - bei Anwendung eines
strengen Maßstabs - jedoch unter keinem vertretbaren Gesichtspunkt rechnen müssen. Dies betrifft
etwaige Hindernisse, die wegen ihrer besonderen Beschaffenheit ungewöhnlich schwer erkennbar sind
oder deren Erkennbarkeit in atypischer Weise besonders erschwert ist und auf die nichts hindeutet.
Quelle: OLG Hamm, Urt. v. 25.06.2021 - 7 U 89/20
Fundstelle: www.justiz.nrw.de
zum Thema: Verkehrsrecht

 

Die steinschleudernde Mähmaschine: Der Betriebsbegriff für Arbeitsmaschinen kann der Haftung nach Verletzungen entgegenstehen

So skurril der folgende (Un-)Fall anmuten mag - das vom Bundesgerichtshof (BGH) dazu getroffene
Urteil macht es für den von einem Stein getroffenen Betroffenen nicht wirklich besser. Aber hier konnte
der Senat einfach nicht anders, denn der Stein, der den Kläger verletzt hatte, wurde von einer
Mähmaschine hochgeschleudert. Und für Arbeitsmaschinen gilt in Haftungsfragen anderes als für
Kraftfahrzeuge.
Der beklagte Landwirt mähte im Sommer die Wiese auf seinem Weideland. Die Mähmaschine
schleuderte dabei einen Stein derart heftig durch die Luft, dass ein Mann auf dem benachbarten Reiterhof
davon im rechten Auge getroffen wurde. Für die dadurch erlittenen schweren Verletzungen verlangte der
Geschädigte nachvollziehbarerweise Schadensersatz.
Der BGH lehnte eine Haftung, wie bereits angedeutet, jedoch ab. Voraussetzung hierfür wäre
nämlich, dass Rechtsgüter eines anderen bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs verletzt oder beschädigt
werden. Die Besonderheit in diesem Fall ergibt sich daraus, dass es sich bei dem Traktor samt
Mähmaschine eben nicht um ein klassisches Kraftfahrzeug, sondern um eines mit "Arbeitsfunktion"
handelt . Es dient also nicht der schlichten Fortbewegung, sondern wird auch als Arbeitsmaschine
eingesetzt. Der BGH hat deshalb schon in einem anderen Fall entschieden, dass ein Anspruch dann
ausscheiden soll, wenn im jeweiligen Einzelfall die Fortbewegungs- und Transportfunktion keine Rolle
mehr spielt und das Fahrzeug nur noch als Arbeitsmaschine eingesetzt wird.
Der Senat stellte nun klar, dass es für die Abgrenzung darauf ankommt, "ob der Arbeitseinsatz auf
oder in örtlicher Nähe zu Straßenverkehrsflächen stattfindet". Der Haftungszweck liegt beispielweise also
dann vor, wenn ein Mähfahrzeug auf einem Seitenstreifen fährt und durch einen hochgeschleuderten Stein
einen Schaden verursacht - nicht aber, wenn dies passiert, während es nur auf einer landwirtschaftlichen
Fläche (mit ausreichend Abstand zum Straßenverkehr) unterwegs ist. Es kommt deswegen auch nicht
entscheidend darauf an, ob der Stein tatsächlich durch das Mähen hochgeschleudert wurde. Ob der
Arbeitsvorgang zum Unfallzeitpunkt noch andauert oder bereits abgeschlossen ist, stelle für sich
genommen keinen hinreichenden Zusammenhang des Einsatzes der Arbeitsmaschine mit dem
Kraftfahrzeugverkehr her, vor dessen Gefahren § 7 Straßenverkehrsgesetz Schutz bieten will.

Hinweis: Auch eine verschuldensabhängige Haftung war nicht gegeben, da der Landwirt nicht gegen
seine Verkehrssicherungspflichten verstoßen hatte, weil er davon ausgehen durfte, dass sich der etwa 50
Meter weit entfernte Mann außerhalb des Gefahrenkreises befunden habe.
Quelle: BGH, Urt. v. 21.09.2021 - VI ZR 726/20
Fundstelle: www.bundesgerichtshof.de
zum Thema: Verkehrsrecht

 

Ersatzfähige Schadensposition: Versicherung muss den Wert des Restkraftstoffs im Tank nach einem Verkehrsunfall ersetzen

Die Frage scheint nicht neu, und dennoch wird sie immer wieder gern von Versicherungen gestellt,
sobald sie einen Totalschaden auszugleichen haben. Gehört die (vor dem Unfall) frische Tankfüllung
wirklich als Schadensposition zu den Wiederherstellungspflichten? Dem Amtsgericht Lebach (AG) blieb
zwar nichts anderes übrig, als zu nicken, aber es fand natürlich auch einige begründende Worte für sein
Urteil.
Der klagende Autofahrer erlitt einen unverschuldeten Verkehrsunfall, nach dem sein Auto einen
wirtschaftlichen Totalschaden aufwies. Die Versicherung des Unfallgegners beglich den Schaden
entsprechend der Totalschadenabrechnung, verweigerte aber die Bezahlung der Tankfüllung, die noch in
dem Fahrzeug verblieben war. Der Geschädigte hatte kurz vor dem Unfall sein Fahrzeug vollgetankt, nach
Ansicht der Versicherung sei dies jedoch kein ersatzfähiger Schaden.
Das AG gab jedoch dem Geschädigten recht. Die Tankfüllung war aufgrund des Totalschadens für
den Geschädigten nicht mehr brauchbar, was ohne den Unfall aber durchaus der Fall gewesen wäre. Da
die Versicherung verpflichtet ist, jenen Zustand herzustellen, der ohne den Unfall bestanden hatte, ist auch
ein entsprechender Wertersatz zu leisten. Die tatsächliche Wiederherstellung ist in dem Sinne, dass der
Treibstoff aufgrund der Fortbewegung des Fahrzeugs verbraucht werde, zwar nicht mehr herzustellen. Der
im Fahrzeugtank verbliebene Treibstoff stellt dennoch eine ersatzfähige Schadensposition dar.
Hinweis: Ein Abpumpen erschien dem Gericht vom Kosten-Nutzen-Verhältnis her nicht sachgerecht.
Dem Geschädigtem ist nicht zuzumuten, das noch im Fahrzeug befindliche Benzin selbst abzupumpen
oder abpumpen zu lassen. Diese Werkstattkosten dürften den Tankstellenneupreis des Benzins
übersteigen. Auch ist zu berücksichtigen, dass selbst im Fall einer kostenlosen Abpumpmöglichkeit die
Verwertbarkeit des Benzins für den Geschädigten äußerst zweifelhaft sein dürfte.
Quelle: AG Lebach, Urt. v. 28.07.2021 - 13 C 141/21
zum Thema: Verkehrsrecht

 

"Cash & Drive"-Verträge: Verschleiertes Pfandleihgeschäft umgeht unzulässigerweise Schutzvorschriften der Pfandleihverordnung

Pfandleiher können bei vorübergehender Geldknappheit Linderung verschaffen. Ob jedoch Verträge
über den Kauf eines Fahrzeugs und die anschließende Vermietung an den Verkäufer - "Cash & Drive"
genannt - mit den verbraucherschützenden Vorschriften der Pfandleihverordnung vereinbar sind, musste
im folgenden Fall das Landgericht München I (LG) überprüfen.
Der Kläger suchte aufgrund akuten Geldbedarfs die Niederlassung der Beklagten auf, die bundesweit
ein staatlich zugelassenes Pfandleihhaus mit Onlineanbindung betreibt und den Service "Cash & Drive"
anbietet. Der Mann unterzeichnete dort zwei Verträge; mit dem ersten Vertrag verkaufte er sein Fahrzeug
an die Beklagte zu einem Preis von 7.500 EUR, mit dem zweiten mietete er dasselbe Fahrzeug für sechs
Monate zu einem monatlichen Mietzins an. Seinen Zahlungsverpflichtungen kam der klagende
Kraftfahrzeughalter regelmäßig nach. Nach Ablauf der Mietzeit ließ die Betreiberin des Pfandleihhauses
das Fahrzeug polizeilich bei dem Kraftfahrzeughalter sicherstellen. In einem gerichtlichen Eilverfahren
erwirkte dieser die Rückgabe des Fahrzeugs. Doch die Beklagte hatte das sichergestellte Fahrzeug zu
diesem Zeitpunkt bereits zum Weiterverkauf an einen Fahrzeughändler weitergegeben. Der
Kraftfahrzeughalter klagte daraufhin, weil er die beiden Verträge für unwirksam hielt. Er verlangte die
Feststellung, dass die Klage trotz zwischenzeitlicher Rückgabe des Fahrzeugs ursprünglich begründet war,
die Herausgabe von Zweitschlüssel und der Zulassungsbescheinigung Teil II sowie die Erstattung der von
ihm an die Beklagte geleisteten Zahlungen.
Das LG gab dem Kläger Recht. Die zwischen den Parteien geschlossenen Verträge seien zwar mit
"Kaufvertrag" bzw. "Mietvertrag" überschrieben - der Sache nach diene das Prinzip "Cash & Drive"
allerdings der Verschaffung kurzfristiger Liquidität gegen Übergabe einer Sicherheit. Die von der
Beklagten angebotene vertragliche Konstruktion stehe wirtschaftlich allerdings einem Darlehen mit
Sicherungsübereignung gleich. Ein solches Darlehen dürfe die Beklagte jedoch gar nicht ausgeben, da es
ihr an einer hierfür notwendigen Banklizenz fehle. Durch die Verträge wurde vielmehr ein "verschleiertes
Pfandleihgeschäft" abgeschlossen, mit dem die Schutzvorschriften der Pfandleihverordnung umgangen
wurden. Die Beklagte wäre in diesem Fall - anders als normalerweise im Pfandleihgeschäft - an keinerlei
rechtliche Rahmenbedingungen gebunden, obwohl sie faktisch dasselbe Geschäft betreibe. Auch der von
ihr generierte Pfandzins sei weit höher, als von der Pfandleihverordnung vorgesehen.
Hinweis: Solche Angebote von Pfandleihhäusern stehen Darlehen mit Sicherungsübereignung gleich,
für die eine Banklizenz benötigt wird. Doch Vorsicht: Das Urteil des LG ist noch nicht rechtskräftig.
Quelle: LG München I, Urt. v. 28.10.2021 - 40 O 590/21
Fundstelle: www.justiz.bayern.de
zum Thema: Verkehrsrecht

 

Keine private Ladestation: Bei erhöhter Nachfrage von Ladestationen darf Vermieter auf einheitliche Lösung bestehen

Einer der Knackpunkte, sich trotz überzeugender Argumente derzeit noch gegen ein E-Auto zu
entscheiden, ist für viele Autofahrende neben der geringen Akkulaufweite der Fahrzeuge vor allem die
geringe Dichte an Auflademöglichkeiten. Wie es sich für einen Wohnungsmieter mit dem Anspruch auf
12
Installation einer solchen Ladesäule verhält, musste im Folgenden das Amtsgericht München (AG) klären.
Es wurde eine Wohnung in einem Komplex mit ca. 200 Einheiten in München samt
Tiefgaragenstellplatz angemietet. Die Mieter planten dann, ein Hybridfahrzeug zu kaufen und eine
Fachfirma mit der Errichtung einer Ladestation zu beauftragen. Die Einbaukosten sollten etwa 1.700 EUR
betragen. Die Ladestation sollte direkt an den zur Wohnung gehörenden Stromzähler angeschlossen
werden. Die Vermieterin machte diesem Plan allerdings einen Strich durch die Rechnung und meinte, dass
über jeden Hausanschluss nur fünf bis zehn Ladestationen angeschlossen werden könnten. Dabei hätten
aber bereits 27 Mietparteien Interesse an einer Ladestation angemeldet. Die Vermieterin verwies ihre
Mieter deshalb an einen städtischen Versorger, der für die Errichtung bei einer Einmalzahlung von
1.500 EUR eine monatliche Nutzungspauschale von 45 EUR und eine nach Fahrzeugtypen gestaffelte
monatliche Strompauschale in Rechnung stellen würde. Nur dieser Versorger könne durch technische
Maßnahmen - wie Verlegung von Brückenkabeln, die Erstellung eines Trafos, neuer Zuleitungsleitungen
und neuer Zähler - eine Versorgung so vieler Ladestationen ohne Überlastung der Hausanschlüsse
gewährleisten. Das wollten die Mieter nicht akzeptieren und zogen vor das Gericht.
Nach § 554 Absatz 1 Bürgerliches Gesetzbuch kann der Mieter tatsächlich verlangen, dass ihm der
Vermieter bauliche Veränderungen der Mietsache erlaubt, die dem Gebrauch durch Menschen mit
Behinderungen, dem Laden elektrisch betriebener Fahrzeuge oder dem Einbruchsschutz dienen. Der
Anspruch bestehe laut AG allerdings nicht, wenn die bauliche Veränderung dem Vermieter auch unter
Würdigung der Interessen des Mieters nicht zugemutet werden könne. Daher war es mit Blick auf die
Interessen der anderen Mietparteien nur gerecht, eine für alle Interessierten gleiche Lösung mit der
Errichtung durch die Stadtwerke München zu gewähren, die eine Überlastung des Stromnetzes technisch
verhindern können. Es wäre nicht akzeptabel, den Mietern eine private Lösung zu erlauben - und vor
allem spätestens nach Ausschöpfen der geringen Kapazität weiteren Interessenten die Lösung aufgrund
der Stromproblematik zu versagen. Daher mussten die Interessen der einzelnen Mieter hier zurücktreten.
Hinweis: Mieter können also grundsätzlich einen Anspruch auf eine Ladestation am Mietobjekt
haben. Sie müssen jedoch auch die Interessen der Vermieter berücksichtigen.
Quelle: AG München, Urt. v. 01.09.2021 - 416 C 6002/21
Fundstelle: www.justiz.bayern.de
zum Thema: Mietrecht

 

Übernahme unrenovierter Wohnung: Landgericht Krefeld lehnt Abwälzung von Schönheitsreparaturen auf Mieter ab

Die Renovierungsklausel ging im letzten Jahr dank der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
(BGH) durch die Medien. Das Landgericht Krefeld (LG) hat im folgenden Mietrechtsstreit diese
Rechtsprechung in einem ganz bestimmten Punkt fortentwickelt - und zwar zu Lasten des Vermieters.
Die Mieter waren vor rund viereinhalb Jahren in eine nicht renovierte Wohnung eingezogen. Im
Kinderzimmer gab es eine lila-grüne Bordüre und einen aus Aufklebern bestehenden Sternenhimmel.
Zudem waren der Wintergarten in einer orangenen Farbe und das Wohnzimmer in einem Eierschalenton
gestrichen. Der Anstrich einer Wand im Wintergarten zeichnete sich dadurch aus, dass er aus in der Mitte
der Wandfläche zusammenlaufenden Dreiecken bestand. Diese Dekorationen stammten aus der

Vormietzeit der Mieter und blieben mit deren Einverständnis so. Der bestehende Mietvertrag sah vor, dass
die Mieter verpflichtet waren, in den Mieträumen auf ihre Kosten regelmäßig Reparaturen durchzuführen
bzw. durchführen zu lassen. Das sollte jedoch nur erforderlich sein, soweit die Reparaturen durch ihren
Mietgebrauch dies erforderlich machen sollten. Unter Berücksichtigung des Grads der Abnutzung sollten
sie in regelmäßigen Abständen von fünf, acht und zehn Jahren Schönheitsreparaturen durchführen. Eine
Rückgabe der Wohnung mit einem Anstrich in neutralen Farben war nur für den Fall geschuldet, dass die
Mieter die Farbgebung verändert haben. Nun kam es, wie es kommen musste: Die Vermieterin verlangte
die Durchführung von Schönheitsreparaturen und behielt die Kaution ein. Die Mieter klagten auf
Herausgabe der Kaution und zogen vor das Gericht.
Das LG war eindeutiger Auffassung: Auch wenn der BGH flexible Fristenpläne bisher gebilligt habe,
verstoßen Klauseln mit derartigen Fristenplänen gegen die Bestimmung des § 309 Nr. 12 BGB. Denn dann
müsste der Mieter beweisen, dass kein Renovierungsbedarf bestünde. Es bestehe aber weder aus
sachverständiger noch aus empirischer Sicht eine tatsächliche Vermutung für das Vorhandensein von
Renovierungsbedarf nach Ablauf bestimmter Fristen. Aber darauf kam es hier final auch gar nicht an, da
nach der BGH-Rechtsprechung eine formularmäßige Überwälzung von Schönheitsreparaturen nur bei
einer renovierten Wohnung möglich ist. Bei einer unrenovierten Wohnung gelte diese Regelung auch nur
dann, wenn der Vermieter dem Mieter einen angemessenen Ausgleich zahlt. Deshalb waren die Mieter
hier nicht zur Renovierung verpflichtet, und die Vermieterin musste ihnen die Kaution auszahlen.
Hinweis: Nur wenn eine Mietwohnung im renovierten Zustand übergeben wurde, ist die Übertragung
der Pflicht zur Renovierung auf den Mieter in vorformulierten Mietverträgen überhaupt möglich. Diesen
Grundsatz sollten Vermieter beachten und vor allem auch Mieter kennen.
Quelle: LG Krefeld, Urt. v. 25.08.2021 - 2 S 26/20
Fundstelle: www.justiz.nrw.de
zum Thema: Mietrecht

 

"Nachprüfbare" Betriebskostenabrechnung: Erfolgt die vertraglich zugesicherte Belegübersendung verspätet, ist die Nachzahlungsforderung nicht

Was es genau bedeutet, dass Betriebskostenabrechnungen nachprüfbar sein müssen, zeigt das
folgende Urteil des Oberlandesgerichts Brandenburg (OLG). Das besondere Augenmerk lag in dem Fall
nicht allein auf der Zusendung bzw. Einsichtnahme entsprechender Belege, sondern - wie so oft - auf dem
korrekten Timing.
Es ging um eine gemietete Gewerbefläche von fast 2.000 Quadratmetern. Im Mietvertrag hieß es zu
den Betriebskosten: "Der Vermieter ist verpflichtet, die Nebenkosten kalenderjährlich mit dem Mieter
abzurechnen. Die Abrechnung ist dem Mieter innerhalb von 12 Monaten nach Ablauf des Kalenderjahres
schriftlich, detailliert und nachprüfbar durch entsprechende Belege, die dem Mieter kostenlos zugesandt
werden, zu erteilen. Erfolgt die Abrechnung nicht bis zum vorgenannten Zeitpunkt, entfällt der Anspruch
des Vermieters auf Nachzahlung etwaiger Nebenkosten." Die Vermieterin erstellt dann für das Jahr 2017
eine Betriebskostenabrechnung und ermittelte einen noch zu zahlenden Betrag von knapp 30.000 EUR.
Die Belege zur Nebenkostenabrechnung waren der Mieterin erst im Januar 2019 zugegangen. Schließlich
klagte die Vermieterin auf die Nachzahlung - jedoch vergeblich.

Denn die Vermieterin hatte weder die erforderlichen Belege beigefügt noch die Abrechnungsfrist
eingehalten. Zwar ist ein Vermieter nicht zur Beifügung der Belege verpflichtet, sondern muss nur die
Einsichtnahme durch die Vorlage der Belege gewähren. Ein Anspruch auf Überlassung von Kopien der
Belege kann bei Mietverhältnissen über preisfreien Wohnraum und Gewerberaum allerdings aus dem
Mietvertrag begründet sein. Das war hier laut OLG der Fall gewesen. Der Wortlaut im Mietvertrag war
eindeutig dahingehend zu verstehen, dass die Ausschlussfrist auch greife, wenn der Abrechnung die
Rechnungskopien nicht beigefügt seien. Und genau deshalb war die gesamte Abrechnung durch die
verspätete Übersendung der Belege nichtig.
Hinweis: Mieter sollten wissen, dass es ohne eine entsprechende vertragliche Verpflichtung keinen
Anspruch auf Übersendung von Kopien der Betriebskosten gibt. Mieter haben lediglich ein
Einsichtnahmerecht beim Vermieter. Ausnahmen davon bestehen allerdings dann, wenn die
Einsichtnahme beim Vermieter nur schwer möglich ist - beispielsweise, wenn der Vermieter weit entfernt
ansässig ist.
Quelle: OLG Brandenburg, Urt. v. 22.06.2021 - 3 U 11/20
Fundstelle: https://gerichtsentscheidungen.brandenburg.de
zum Thema: Mietrecht

 

Schuldanerkenntnis: Auch schriftlich abgegebene Erklärungen haben manchmal keinen Wert

Im folgenden Fall, der vor dem Oberlandesgericht Brandenburg (OLG) landete, wird der alte
Grundsatz "Wer schreibt, der bleibt." von der Theorie geschlagen, dass Papier eben doch geduldig ist. Was
daraus zu lernen ist: Vereinbarungen sollten in guten Zeiten einer Beziehung schriftlich fixiert werden,
denn unter Umständen ist ein Schuldanerkenntnis nach Liebesaus vor Gericht das Papier nicht wert, auf
dem es geschrieben wurde.
Ein Paar unterzeichnete gemeinsam einen Mietvertrag. Die Frau zog zum August 2007 mit ihren
beiden Kindern in die Wohnung ein und wohnte dort bis Ende Mai 2013. Die Mietverbindlichkeiten und
sonstigen Lebenshaltungskosten hatte sie bis dato allein beglichen. Im April 2013 unterschrieb das Paar
erneut gemeinsam als Mieter einen Mietvertrag über eine Wohnung, die einen Monat später an beide
Beteiligte übergeben wurde. Anfang März 2015 - also gut zwei Jahre später - überwies der Mann der Frau
erstmals einen Betrag von 250 EUR mit dem Verwendungszweck "laufende Kosten". Ab diesem
Zeitpunkt zahlte er monatlich bis einschließlich Mai 2017 insgesamt 8.750 EUR. Doch der Mann beendete
die Beziehung im August 2016.
Die Frau behauptete nun, beide hätten vor Abschluss des Mietvertrags vereinbart, die Mietkosten und
Lebenshaltungskosten hälftig zu teilen. Der Mann wandte jedoch ein, nie mit der Frau in einer
Lebensgemeinschaft zusammengelebt zu haben. Den neuen Mietvertrag habe er nur unterschrieben, da der
neue Vermieter die Bonität der Frau angezweifelt habe - in die Wohnung sei er aber nie eingezogen. Nun
forderte die Frau etwas über 32.000 EUR und übersandte dem Mann eine entsprechende
Forderungsaufstellung. Daraufhin erklärte dieser handschriftlich gegenüber ihrer Rechtsanwältin
sinngemäß: "Hiermit bestätige ich Ihnen die Kostenzusammenstellung über 32.325 EUR aus Ihrem
Schreiben vom 17.9.2016. Ich kann ab Anfang März 2017 auf finanzielle Mittel zurückgreifen. Sobald mir
diese zur Verfügung stehen, werde ich die Überweisung auf Ihr Konto vornehmen. Diese erfolgt dann
umgehend bis spätestens zum 10.3.2017." Da meint man doch, alles sei prima, oder? Warum landete die

Sache dennoch vor dem OLG? Weil ein Schuldanerkenntnis rechtlich nicht ganz so einfach ist, wie man
allgemein denken mag.
Das OLG musste daher auch etwas ausholen. Und zwar gibt es neben dem "abstrakten
Schuldanerkenntnis" und dem im BGB nicht geregelten "bestätigenden Schuldanerkenntnis" noch ein
weiteres Anerkenntnis - und das verkörpert keinen besonderen rechtsgeschäftlichen Verpflichtungswillen
des Schuldners. Ein Schuldner gibt ein solches Anerkenntnis vielmehr zu dem Zweck ab, dem Gläubiger
seine Erfüllungsbereitschaft mitzuteilen und diesen dadurch etwa von sofortigen Maßnahmen abzuhalten
oder dem Gläubiger den Beweis zu erleichtern. Doch Vorsicht: Die Beteiligten treffen damit keine
rechtsgeschäftliche Regelung - und zwar auch dann nicht, wenn das Anerkenntnis vom Gegner
"akzeptiert" worden ist!
Um ein solches einseitiges nichtrechtsgeschäftliches Anerkenntnis handelte es sich auch hier. Der
Schuldner wollte sich gar nicht verpflichten, sondern bekundete lediglich seine Überzeugung vom
Bestehen seiner Verpflichtung oder vom Vorliegen bestimmter Tatsachen. Eine (neue) rechtliche Bindung
ging er damit nicht ein. Daraus folgt, dass das einseitige Anerkenntnis jederzeit widerrufbar war. Mangels
nichtehelicher Lebensgemeinschaft seien die Forderungen der Antragstellerin somit rechtsgrundlos. Eine
Vereinbarung einer hälftigen Kostenteilung oder eine Aufforderung, sich an Kosten zu beteiligen, habe es
nie gegeben. Die Forderungen seien zudem auch verjährt.
Hinweis: Wenn ein echtes Schuldanerkenntnis gewollt ist, sollte eine entsprechende Formulierung
vom Anwalt des Vertrauens kommen, um Rechtssicherheit zu garantieren.
Quelle: OLG Brandenburg, Urt. v. 23.06.2021 - 13 UF 83/19
Fundstelle: https://gerichtsentscheidungen.brandenburg.de
zum Thema: Mietrecht

 

Geplanter Wohneigentumskauf: Höhe der Reservierungsgebühr darf beim Kauf einer Eigentumswohnung keinen unzulässigen Druck ausüben

Vor allem in Großstädten wird es zunehmend zur Praxis, dass sich Verkäufer von
Eigentumswohnungen bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kaufvertrags eine
Reservierungsgebühr zahlen lassen. Das folgende Urteil des Landgerichts Köln (LG) zeigt auf, dass dieses
neue Prozedere allerdings noch so einige Fallstricke für die Verkäufer innehält.
Eine Kölner Immobilie sollte für 1,2 Millionen EUR den Eigentümer wechseln. Die beiden Parteien
einigten sich dabei auf die Zahlung einer Reservierungsgebühr von 10.000 EUR. Diese Gebühr würde
nach einer frei formulierten "Reservierungsvereinbarung" zugunsten des Verkäufers verfallen, sollte bis
zum 31.12.2018 kein Kauf zum vereinbarten Preis zustande kommen. Und es kam, wie es kommen
musste: Die Kaufvertragsverhandlungen scheiterten schließlich im Februar 2019. Der Käufer, der die
10.000 EUR vereinbarungsgemäß gezahlt hatte, meinte nun, die Reservierungsvereinbarung wäre wegen
Formnichtigkeit unwirksam, und das Geld müsse zurückgezahlt werden.
Die Ansicht des ehemals Kaufwilligen teilte das LG. Der Käufer hat durchaus einen Anspruch auf
Rückzahlung der Reservierungsgebühr. Denn die entsprechende Vereinbarung war wegen einer
Formnichtigkeit tatsächlich unwirksam, da sie nicht notariell beurkundet worden war. Sie sollte mit dem
Kaufvertrag über die Immobilie "stehen und fallen" und war zudem auf eine Höhe beziffert, die einen
mittelbaren Zwang zum Kauf ausübte. Dieser unzulässige Druck ist bei 10 % einer üblichen
Maklerprovision erreicht - absolut bei 5.000 EUR oder relativ bei 0,3 % des Kaufpreises. Eine mögliche
Heilung des Formmangels sei hier zudem deshalb nicht möglich, weil kein notarieller Kaufvertrag
abgeschlossen worden ist.
Hinweis: Ab einer gewissen Höhe müssen Reservierungsgebühren also vor einem Notar vereinbart
werden. Das ist zwar nicht gerade praxisgerecht, das Gesetz sieht es jedoch so vor.
Quelle: LG Köln, Urt. v. 26.08.2021 - 2 O 292/19
Fundstelle: www.justiz.nrw.de
zum Thema: Mietrecht

 

Wertermittlungsanspruch des Pflichtteilsberechtigten: Drei differierende Gutachten können laut BGH eine vierte Wertermittlung rechtfertigen

Pflichtteilberechtigte können den Erben gegenüber einen Anspruch auf Wertermittlung der
Nachlassgegenstände haben, um sich über die reine Auskunft des Erben hinaus ein Bild über den Wert des
Nachlassgegenstands machen und so das Risiko eines Rechtsstreits über den Pflichtteil beurteilen zu
können. Dass dabei viele Köche den Brei zu verderben drohen, ist für den Bundesgerichtshof (BGH)
jedoch kein Anlass, es bei berechtigten Zweifeln zu bereits drei bestehenden Gutachten dabei zu belassen.
Nach dem Tod des Erblassers stritten dessen Tochter sowie der testamentarische Alleinerbe um den
Wert eines Grundstücks aus dem Nachlass der vorverstorbenen Eigentümerin. Zum Verkehrswert der
Immobilie existierten bereits drei verschiedene Gutachten, die zu sehr unterschiedlichen Bewertungen in
einer Spanne zwischen 58.000 EUR und 245.000 EUR führten. Nach dem Tod des Erblassers veräußerte
der Erbe die Immobilie zum Kaufpreis von 65.000 EUR. Die Pflichtteilsberechtigte war der Ansicht, ihr
stehe ein Anspruch auf Wertermittlung zu. Das Berufungsgericht hat diesen Antrag vor dem Hintergrund
abgewiesen, dass bereits drei Bewertungen existierten und eine weitere Bewertung allenfalls die
Unsicherheit zum Verkaufswert der Immobilie steigern würde.
Dieser Ansicht hat sich der BGH jedoch nicht angeschlossen. Pflichtteilsberechtigte haben ein
schutzwürdiges Interesse an einer Wertermittlung, wenn die vom Erben vorgelegten Unterlagen und
Auskünfte nicht ausreichen, sich ein Bild über den Wert des Nachlassgegenstands zu machen. Gerade vor
dem Hintergrund der sehr stark differierenden Verkehrswerte geht der BGH hier durchaus von einem
berechtigten und schutzwürdigen Interesse an der Geltendmachung des Anspruchs aus. Ferner besteht der
Anspruch auch dann noch, wenn der Nachlassgegenstand vom Erben nach dem Erbfall bereits veräußert
wurde. Anderenfalls würde Pflichtteilsberechtigten der Nachweis verwehrt oder deutlich erschwert, dass
der Veräußerungserlös nicht dem tatsächlichen Verkehrswert entspricht.
Hinweis: Es besteht kein Anspruch darauf, dass der Wert der Immobilie durch Vorlage eines
Wertgutachtens eines öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen ermittelt wird. Es kommt nur
darauf an, dass die Bewertung durch einen unparteiischen Sachverständigen erfolgt - unabhängig davon,
ob er öffentlich bestellt und vereidigt ist oder nicht.
Quelle: BGH, Urt. v. 29.09.2021 - IV ZR 328/20
Fundstelle: www.bundesgerichtshof.de
zum Thema: Erbrecht

 

Antrag erfolglos: Erben haben keinen Anspruch auf Aufnahme eines Berufungsgrunds in einen Erbschein

Aus einem Erbschein ergibt sich neben dem Umstand, wer Erbe geworden ist, auch die Größe des
Erbteils. Darüber hinaus sind auch Anordnungen zu nennen, die den Erben beschränken können. Im zu
entscheidenden Fall des Bundesgerichtshofs (BGH) ging es im Kern um die Frage, ob bei Existenz
mehrerer letztwilliger Verfügungen die konkrete Verfügung im Erbschein genannt werden muss, auf die
sich das Nachlassgericht bei der Feststellung des Erbrechts bezieht.
Die Erblasserin und ihr vorverstorbener Ehemann hatten bereits 1984 eine gemeinschaftliche
letztwillige Verfügung aufgesetzt, im Zuge derer sie sich wechselseitig zu Alleinerben und die beiden
Kinder zu gleichen Teilen zu Schlusserben eingesetzt haben. Nach dem Tod des Mannes errichtete die
Erblasserin im Jahr 2015 ein weiteres notarielles Testament, wobei sie die hälftige Erbeinsetzung der
beiden Kinder beibehielt, allerdings detaillierte Regelungen zur Erbauseinandersetzung traf. Einer der
Erben war nach dem Tod seiner Mutter nun der Ansicht, dass diese im Jahr 2015 nicht mehr testierfähig
gewesen sei, weshalb er einen Antrag mit dem Inhalt gestellt hat, Miterbe aufgrund des Testaments aus
dem Jahr 1984 geworden zu sein. Das Nachlassgericht hat lediglich einen Erbschein mit dem Hinweis
darauf erteilt, dass die Erbfolge aufgrund testamentarischer Verfügung festgestellt sei. Welche Verfügung
es konkret war, ergab sich aus dem Erbschein jedoch nicht. Das Oberlandesgericht hat die Richtigkeit des
so erteilten Erbscheins bestätigt und die Rechtsbeschwerde zum BGH zugelassen.
Der BGH hat nun klargestellt, dass kein Anspruch darauf bestehe, dass in dem Erbschein die
konkrete letztwillige Verfügung genannt werde. Dem Miterben gehe es bei seinem Antrag darum, die
Frage zu klären, ob die im Jahr 2015 angeordnete Teilungsanordnung wirksam sei - diese Absicht sei über
den Sinn und Zweck eines Erbscheins aber nicht gedeckt. Aus dem Erbschein muss sich lediglich ergeben,
wer Erbe ist, gegebenenfalls die Größe des Erbteils sowie eventuelle Anordnungen über Beschränkungen.
Hinweis: Grundsätzlich gilt, dass einem Erbschein kein anderer Inhalt gegeben werden kann, als von
dem Erben beantragt wurde. Diese Bindung bezieht sich aber nur an den gesetzlich bestimmten Inhalt des
Erbscheins.
Quelle: BGH, Urt. v. 08.09.2021 - IV ZB 17/20
Fundstelle: www.bundesgerichtshof.de
zum Thema: Erbrecht

Zinssatztypisierung durch Finanzamt: Ungleichbehandlungen durch Abzinsung der Nachlassverbindlichkeit gelten (noch) als tolerabel

Dass eine Erbschaft selbst bei einer beachtlichen Erbmasse nicht immer nur ein Segen ist, wissen
jene nur zu gut, die hier regelmäßig hereinschauen. So ist auch die Erbschaftsteuer nicht selten ein Grund,
sich zu grämen und - wie im folgenden Fall - sein vermeintliches Recht vor dem Finanzgericht Düsseldorf
(FG) durchzusetzen.
Der Kläger in dem Verfahren gegen die Finanzverwaltung hatte im Vermächtnisweg diverse
Betriebsvermögen sowie einen Geldbetrag von 200.000 EUR erhalten. Bei der erbrechtlichen
Auseinandersetzung verzichtete sein Halbbruder gegen Zahlung eines Betrags von 400.000 EUR auf
Ansprüche aus diesem Vermächtnis, was so auch notariell vereinbart wurde. Der Geldbetrag war in
Teilbeträgen zu zahlen und zinslos fällig. Das Finanzamt setzte gegen den Kläger schließlich die
Erbschaftsteuer fest und berücksichtigte hierbei die Zahlungsverbindlichkeit gegenüber dem Halbbruder
mit einem abgezinsten Betrag von lediglich 253.620 EUR. Hiergegen richtete sich die Klage des
Vermächtnisnehmers, der den gesamten Betrag von 400.000 EUR als Nachlassverbindlichkeit geltend
gemacht hatte. Wesentlicher Kritikpunkt des Klägers war dabei der Zinssatz von 5,5 %. Bereits im
Zusammenhang mit anderen rechtlichen Fragen seien durch den Bundesfinanzhof (BFH) schwerwiegende
verfassungsrechtliche Zweifel an der Höhe von Zinssätzen geäußert worden, die deutlich oberhalb der
marktüblichen Zinssätze liegen.
Dieser Ansicht hat sich das FG jedoch nicht angeschlossen. Dem Gesetzgeber sei es erlaubt, aus
Vereinfachungsgründen auf einen derartigen Zinssatz zurückzugreifen, wobei gewisse
Ungleichbehandlungen zu tolerieren seien. Im Vergleich mit den marktüblichen Fremdkapitalkosten stellt
die derartige Zinssatztypisierung des Bewertungsgesetzes für den streitgegenständlichen Zeitraum im Jahr
2015 noch keinen Verstoß gegen Verfassungsrecht dar.
Hinweis: Das FG hat die Revision zum BFH zugelassen, da für den betroffenen Zeitraum noch keine
höchstrichterliche Rechtsprechung vorliegt.
Quelle: FG Düsseldorf, Urt. v. 28.07.2021 - 4 K 865/21 Erb
Fundstelle: www.justiz.nrw.de
zum Thema: Erbrecht

 

Kirchliche Stiftung als Alleinerbin: Wer nicht Trägerin oder Beschäftigte im Sinne des Heimgesetzes ist, darf erben

Heimträgern ist gesetzlich untersagt, sich von Bewohnern und Bewerbern um einen Heimplatz Geld
oder geldwerte Leistungen versprechen zu lassen, die über das Entgelt für die Unterbringung hinausgehen.
Aus diesem Grund sind testamentarische Verfügungen zugunsten eines Heimträgers grundsätzlich
problematisch - wie auch das folgende Urteil des Oberlandesgerichts München (OLG) aufzeigt.
Die Klägerin, die sich auf die Stellung als gesetzliche Erbin berufen wollte, begehrte bei Gericht die
Feststellung, dass sie Alleinerbin der 2014 verstorbenen Erblasserin geworden sei. Diese hatte im Jahr
2010 ein notarielles Testament errichtet, in dem sie eine kirchliche Stiftung zu ihrer Alleinerbin eingesetzt
hatte. Ersatzerbe sollte eine Kirchengemeinde sein, die Trägerin des Altenpflegeheims war, in dem sich
die Erblasserin seinerzeit aufhielt. Der Erbin wurde zudem die Auflage gemacht, sich um das Grab der
Erblasserin zu kümmern, dieses zu pflegen und instand zu halten. Ihren Sohn sowie seine Familie hatte die
Erblasserin von der Erbfolge ausgeschlossen.
Das Landgericht Kempten hatte die Klage bereits mit der Begründung abgewiesen, dass die klagende
Erbin nicht Trägerin bzw. Beschäftigte im Sinne des Heimgesetzes sei. Insoweit liege auch kein Verstoß
gegen ein gesetzliches Verbot vor. Dem hat sich im Ergebnis nun auch das OLG angeschlossen.
Unabhängig davon, dass die Alleinerbin nicht Trägerin des Pflegeheims war, liegt nach Ansicht des OLG
auch keine Umgehung der Verbotsvorschrift vor. Eine solche Umgehung kann dann unzulässigerweise
vorliegen, wenn durch die gewählte rechtliche Gestaltung zwar der Tatbestand des Verbotsgesetzes selbst
nicht erfüllt ist, allerdings der von ihm verbotene Erfolg herbeigeführt wird. Dies wäre beispielsweise der
Fall, wenn die verbotene Zuwendung zwar nicht an den Träger des Heims selbst, sondern an eine ihm
nahestehende oder sonst verbundene Person geht und dadurch eine mittelbare bzw. indirekte Begünstigung
erfolgt. Weiterhin erforderlich sei dafür aber, dass sowohl der Zuwendende als auch der Empfänger in
Einvernehmen gehandelt haben müssten. Hat aber beispielsweise der Heimträger von einer einseitigen
testamentarischen Zuwendung zu seinen Gunsten erst nach dem Tod des Erblassers Kenntnis erlangt, ist
die letztwillige Verfügung nicht wegen Verstoßes gegen das Heimgesetz unwirksam.
Hinweis: Im Erbrecht gilt die Besonderheit, dass die Unwirksamkeit einer von mehreren in einem
Testament enthaltenen Verfügungen die Wirksamkeit der übrigen Verfügungen grundsätzlich nicht
berührt.
Quelle: OLG München, Beschl. v. 06.07.2021 - 33 U 7071/20
Fundstelle: www.gesetze-bayern.de
zum Thema: Erbrecht

 

Ergänzungsbedürftiges Nachlassverzeichnis: Notar darf sich nicht allein auf die Wiedergabe der Bekundungen des Erben beschränken

Für Plichtteilsberechtigte besteht nur schwerlich die Möglichkeit, Berichtigungen oder Ergänzungen
eines notariellen Nachlassverzeichnisses einzufordern. Dass "schwerlich" jedoch nicht "unmöglich"
bedeutet, zeigt das Urteil des Oberlandesgerichts Brandenburg (OLG) im folgenden Fall.
Der 2016 verstorbene Witwer hinterließ als Erblasser drei Kinder, von denen aufgrund einer
letztwilligen Verfügung von Todes wegen zwei Kinder zu Schlusserben eingesetzt waren. Eine Tochter
wurde letztlich von der Erbfolge ausgeschlossen. Diese plichtteilsberechtigte Tochter verlangte von den
Erben ein notarielles Nachlassverzeichnis und die Vorlage eines Bewertungsgutachtens. Im Streitfall ging
es um die Frage, ob das Nachlassverzeichnis unvollständig sei und entsprechende Korrekturen bzw.
Ergänzungen vorgenommen werden müssen. Sie bemängelte insbesondere unvollständige Ermittlungen
der beauftragten Notarin zu Umfang und Wert des Nachlasses. Dies betreffe zum einen, dass die Notarin
fälschlicherweise davon ausgegangen sei, sie habe die Eigentumsverhältnisse an den vorgefundenen
Gegenständen nicht klären dürfen. Zum anderen habe sie sich darüber hinaus bei dem
streitgegenständlichen Grundstück auf Angaben der Erben verlassen und das außergerichtlich vorgelegte
Wertgutachten nicht überprüft. Im Rahmen der Ermittlungstätigkeiten der Notarin hätten auch weitere
Bankinstitute bzw. die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht angefragt werden müssen.
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Das OLG war im Ergebnis der Auffassung, dass der Pflichtteilsberechtigten noch Ansprüche auf
Ergänzung der bereits erteilten notariellen Auskünfte zustehen. Liegt ein notarielles Nachlassverzeichnis
vor, kann der Pflichtteilsberechtigte grundsätzlich nicht dessen Berichtigung oder Ergänzung verlangen.
Ausnahmsweise besteht ein solcher Anspruch aber dann, wenn beispielsweise in dem Verzeichnis eine
unbestimmte Mehrheit von Nachlassgegenständen (z.B. aufgrund eines Rechtsirrtums des
Auskunftspflichtigen) nicht aufgeführt ist. Anerkannt ist ferner ein solcher Anspruch, wenn Angaben über
den fiktiven Nachlass oder Schenkungen fehlen oder aber sich der Verpflichtete trotz einer Möglichkeit
hierzu entsprechende Informationen nicht verschafft hat. Der Notar darf sich hierbei nicht nur auf die
Wiedergabe der Bekundungen des Erben beschränken.
Aus den vorgenannten Gründen war das erstellte Nachlassverzeichnis ergänzungsbedürftig.
Hinsichtlich der Ermittlung des Kontobestands wäre es zumutbar und notwendig, bei weiteren vor Ort
ansässigen Geldinstituten Erkundigungen einzuholen. Auch hätte es bezüglich des Grundbuchbestands
Anlass gegeben, Erkundigungen über pflichtteilsrelevante Übertragungen innerhalb des
Zehnjahreszeitraums durchzuführen.
Hinweis: Grundsätzlich gilt: Besteht Grund zur Annahme, dass das Verzeichnis nicht mit der
erforderlichen Sorgfalt aufgestellt worden ist, hat der Auskunftsverpflichtete auf Verlangen an Eides statt
zu versichern, dass er nach bestem Wissen den Bestand so vollständig angegeben habe, wie er dazu
imstande ist.
Quelle: OLG Brandenburg, Urt. v. 14.09.2021 - 3 U 136/20
Fundstelle: https://gerichtsentscheidungen.brandenburg.de
zum Thema: Erbrecht

 

Die "Coronakreuzfahrt": Sich verschlechternde Pandemieprognosen berechtigen zum Reisestorno

An dieser Stelle wurden bereits viele Fälle behandelt, die sich mit Rückzahlungsansprüchen
beschäftigten, die durch Reisestornos aufgrund der Pandemie aufkamen. Die folgende Konstellation
gestaltete sich jedoch etwas anders, so dass sich das Amtsgericht München (AG) mit der Frage befassen
musste, ob ein Reisepreis auch dann zurückgezahlt werden müsse, wenn eine Kreuzfahrt inmitten der
Coronazeiten gebucht worden war.
Zwei Personen hatten im Juni 2020 eine Mittelmeerkreuzfahrt inklusive Flug nach Italien für Ende
November 2020 gebucht. Mitte Juli teilte die Veranstalterin mit, dass die Reise coronabedingt um vier
Nächte gekürzt wurde - der Preis würde entsprechend reduziert. Beide Kunden nahmen die
Vertragsänderung an. Mitte September 2020 wurde die Reise erneut geändert, und die Reisenden nahmen
auch dies in Kauf. Anfang November 2020 teilten die beiden Kunden dann ihrerseits jedoch mit, dass für
sie die Reise aufgrund des erhöhten Infektionsgeschehens nicht durchführbar sei - sie verlangten die
kostenlose Stornierung. Als diese abgelehnt wurde, erklärten sie den Rücktritt und verlangten den
Reisepreis zurück. Die Veranstalterin stellte ihnen jedoch Stornogebühren in Höhe von 90 % des
Reisepreises in Rechnung. Und so landeten beide Parteien vor dem AG.
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Das AG hat der Klage auf Rückzahlung des Reisepreises in Höhe von rund 2.500 EUR stattgegeben.
Die Kunden hätten zum Zeitpunkt der Buchung(sänderung) im September nicht mit der massiven
Verschlechterung der Pandemielage in Italien zum Reisezeitpunkt Ende November 2020 rechnen müssen.
Ausschlaggebend war es hierbei, dass zu den bei Buchung bekannten Beeinträchtigungen zum Zeitpunkt
des Rücktritts aufgrund entsprechender Prognoseentscheidung weitere Beeinträchtigungen hinzugetreten
sind. Die seinerzeit bekannten Beeinträchtigungen hatten die Kunden durch die Buchung akzeptiert -
weitere jedoch nicht.
Hinweis: Haben Sie Rückforderungsansprüche gegen einen Reiseveranstalter, sollten Sie sich an
einen Rechtsanwalt wenden. Der wird die Erfolgsaussichten Ihrer Ansprüche prüfen, Sie beraten und dann
die Ansprüche gegebenenfalls gerichtlich geltend machen.
Quelle: AG München, Urt. v. 15.06.2021 - 113 C 3634/21
Fundstelle: www.justiz.bayern.de
zum Thema: Sonstiges

 

Schlappe für YouTube: Löschungen von "Coronavideos" müssen konkret begründet werden

Das Landgericht Köln (LG) musste sich im Folgenden mit der heiklen Verbindung der wohl
bekanntesten Videoplattform und einer Betreiberin eines darauf ansässigen Videokanals beschäftigen. Und
wer im Dezember 2021 von dieser Kombination liest, ahnt: Es ging um Corona und die Frage "Wer darf
was?".
Die hier antragstellende Frau betrieb einen Videokanal bei YouTube und veröffentlichte zwei Videos
mit einer Länge von 26 Minuten und 29 Minuten mit Interviews und Berichten zum Thema Corona.
YouTube löschte diese beiden Videos - dies aber ohne tiefgreifende Begründung. Dagegen zog die Frau
vor das Gericht.
Das LG untersagte YouTube im Wege einer einstweiligen Verfügung tatsächlich, die Videos zu
löschen und die Antragstellerin wegen des Inhalts der Videos mit einer Verwarnung zu versehen. Der Frau
stand schlicht und ergreifend ein vertraglicher Anspruch zu. Die Videoplattform hatte nicht konkret genug
mitgeteilt, welche Passagen ihrer Meinung nach gegen welche Vorschrift der von ihr aufgestellten
Richtlinien verstoßen würden. Nur bei kurzen Videos mit offensichtlich auf den ersten Blick erkennbaren
medizinischen Fehlinformationen ist eine Löschung auch ohne Benennung der konkreten Passagen durch
die Plattform zulässig. Dies gilt allerdings nicht für längere Videos, die auch zulässige Äußerungen
enthalten.
Hinweis: Es wird erkennbar, dass auch große Internetplattformen es sich nicht zu leicht machen
dürfen. Wenn Inhalte gelöscht werden sollen, muss stets der Einzelfall Berücksichtigung finden.
Quelle: LG Köln, Urt. v. 11.10.2021 - 28 O 351/21
Fundstelle: www.justiz.nrw.de
zum Thema: Sonstiges

 

Versteckte Flugbuchungskosten: BGH erteilt Zahlungsgebühren bei Onlinebuchungen und versteckten Zusatzentgelten eine Absage

Immer wieder führen zu Unrecht erhobene Gebühren vor die Gerichte. Dass es sich lohnt,
regelmäßig auf Zusatzkosten bei Onlinebuchungen von Flügen zu achten, zeigt der folgende Fall des
Bundesgerichtshofs (BGH). Denn hier langte ein Unternehmen gleich doppelt zu, was
dem Bundesverband der Verbraucherzentralen auffiel.
Das beklagte Unternehmen bot Flugbuchungen im Internet an und verlangte ein Entgelt für die
Nutzung diverser Zahlungsmittel. Lediglich bei der Zahlung mit der von ihm in Zusammenarbeit einer
Direktbank kostenlos vertriebenen "Mastercard Gold" - diese Option war im Vorhinein angewählt -
gewährte es einen Rabatt in eben jener Höhe, in der für die Zahlung mit allen anderen Optionen eine
sogenannte Servicegebühr erhoben wurde. Zudem fehlte bei einigen Angeboten vor Flugbuchung der
nötige Hinweis auf die Kosten, die von der Fluggesellschaft für die Beförderung von Gepäck erhoben
wurden. Gegen diese Praxis klagte der Bundesverband der Verbraucherzentralen.
Der BGH bestätigte die Ansicht des Verbraucherverbands: Das Verhalten des Unternehmens war
tatsächlich rechtswidrig, denn es ermöglichte dem Verbraucher keine gängige und zumutbare
unentgeltliche Zahlungsmöglichkeit. Nach der Rechtsprechung des BGH muss ein Unternehmer bei
Vertragsschlüssen im Internet eine gängige bargeldlose Zahlungsmöglichkeit zur Verfügung stellen, die
dem Kunden mit zumutbarem Aufwand zugänglich ist - und das, ohne dass hierfür eine zusätzliche
Gebühr zu entrichten ist. Diese Voraussetzungen gelten als nicht erfüllt, wenn als einzige kostenlose
Zahlungsmöglichkeit eine Kreditkarte angeboten wird, über die ein großer Teil der Kunden nicht verfügt.
Und natürlich war es auch nicht rechtens, bei der Buchung gegebenenfalls anfallende Zusatzentgelte für
Gepäckbeförderung nicht auszuweisen. Das Ausweisen von Zusatzentgelten ist nach der
Luftverkehrsdiensteverordnung schlichtweg erforderlich.
Hinweis: Bei den Kosten in diesem Fall geht es zwar um kleinere Beträge, und längst nicht jeder geht
gegen solche Gebühren vor. Doch unter Vorlage dieses Urteils sollte jedem Reiseveranstalter klar sein,
dass er sich in vergleichbaren Fällen nicht rechtmäßig verhält.
Quelle: BGH, Urt. v. 24.08.2021 - X ZR 23/20
Fundstelle: www.bundesgerichtshof.de
zum Thema: Sonstiges

 

Entschädigung nach Flugausfall: Solidaritätsstreiks und deren Folgen stellen keine außergewöhnlichen Umstände dar

Wenn ein Flug ausfällt, ist das für den Reisenden zwar ärgerlich, doch zum Glück hat man
wenigstens Ansprüche auf eine Entschädigung. Ob das bei einem sogenannten Unterstützungsstreik aber
auch der Fall ist, musste nun der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden.
Als bei der Lufthansa gestreikt wurde, solidarisierte sich das Kabinenpersonal der
Tochtergesellschaft Eurowings mit der Belegschaft der Muttergesellschaft und streikte auch. Der Streik
verselbständigte sich und wurde selbst nach einer Einigung zwischen der Gewerkschaft und der Lufthansa
noch fortgesetzt. Unter den Leidtragenden war auch ein Fluggast, der von Salzburg nach Berlin fliegen
wollte. Der Flug wurde aufgrund des Streiks bei Eurowings annulliert. Nun verlangte der Fluggast eine
Entschädigung von 250 EUR, die er einklagte. Eurowings machte dabei geltend, dass es sich bei dem
Streik um einen außergewöhnlichen Umstand gehandelt und das Unternehmen alle zumutbaren
Maßnahmen ergriffen habe, um die Auswirkungen des Streiks zu begrenzen.
Das sah der EuGH anders. Der Streik der Belegschaft aus Solidarität mit der Belegschaft der
Muttergesellschaft war nicht als außergewöhnlicher Umstand anzusehen, der die Fluglinie von
Ausgleichsverpflichtungen wegen Flugannullierungen befreien konnte. Eine Flugannullierung wegen des
Solidaritätsstreiks ist kein "außergewöhnlicher Umstand" im Sinne der Fluggastrechte-Verordnung. Wenn
eine Gewerkschaft die Beschäftigten einer Muttergesellschaft zum Streik aufruft, ist es vorhersehbar, dass
sich die Beschäftigten anderer Konzernteile diesem Streik entweder aus Solidarität oder mit dem Ziel
anschließen, bei dieser Gelegenheit ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Da für den Arbeitgeber der
Ausbruch eines Streiks zudem ein vorhersehbares Ereignis darstellt, verfügt er grundsätzlich über die
Mittel, sich darauf vorzubereiten und damit dessen Folgen gegebenenfalls abzufangen, so dass die
Ereignisse für ihn zu einem gewissen Grad beherrschbar bleiben. Eurowings musste bei insgesamt 712 für
den Streiktag vorgesehenen Flügen lediglich 158 Flüge annullieren.
Hinweis: Möchten Sie Rechte aus einem verspäteten oder annullierten Flug geltend machen, sollten
Sie sich an den Rechtsanwalt Ihres Vertrauens wenden.
Quelle: EuGH, Urt. v. 06.10.2021 - C-613/20
Fundstelle: www.curia.europa.eu
zum Thema: Sonstiges

 

Berufung scheitert an Fristablauf: Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand abgelehnt, wenn Faxübermittlung vorschnell aufgegeben wurde

Dass auch Rechtsanwälte nur Menschen sind, denen Fehler passieren können, mag beunruhigen.
Denn schließlich wendet man sich als juristischer Laie vertrauensvoll an Profis, die alle Fallstricke des
Rechtssystems kennen sollten. Hier stolperte ein solcher Profi nicht nur über eine technische Hürde,
sondern vor allem an seiner mangelnden Hartnäckigkeit. Denn beim Fristenablauf kennt auch der
Bundesgerichtshof (BGH) nur selten Milde.
Wenn ein Rechtsanwalt eine Berufung gegen ein Urteil einlegen möchte, muss er dafür eine Frist
einhalten - in aller Regel einen Monat. Versäumt er diese Frist, ist die Berufung unzulässig. Der
Rechtsanwalt dieses Falls wollte am Tag des Fristablaufs eine solche Berufung einlegen und versuchte
zwischen 14 Uhr und 15.05 Uhr fünf Mal erfolglos, die Berufungsschrift per Telefax an das zuständige
Oberlandesgericht unter der ihm bekannten Nummer des Telefaxanschlusses zu übermitteln. Dies
misslang - er verpasste die Frist. Daraufhin stellte er einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorherigen
Stand - ein Rettungsring, wenn die Frist nachweislich ohne eigenes Verschulden versäumt worden ist
(beispielsweise, weil das Faxgerät beim Gericht defekt war).
Der Antrag des Anwalts wurde jedoch zurückgewiesen. Natürlich gibt es bei der Übermittlung via
Telefax zahlreiche Störungsmöglichkeiten. Das befreit einen Rechtsanwalt aber nicht davon, alle weiterhin
möglichen und zumutbaren Maßnahmen zur Fristwahrung zu ergreifen, sobald wegen einer technischen
Störung eine Faxverbindung (zunächst) nicht zustande kommt. Hier hätte der Anwalt bis zum Fristablauf
weitere Übermittlungsversuche unternehmen müssen, um auszuschließen, dass die
Übermittlungsschwierigkeiten in seinem Bereich liegen. Es hätte ja schließlich sein können, dass das
Faxgerät beim Gericht vielleicht nur für eine Stunde defekt ist. Hier aber hat der Anwalt vorschnell
aufgegeben - und der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand wurde auch durch den BGH
final abgewiesen.
Hinweis: Fristversäumnis, weil das Faxgerät nicht funktioniert? Damit ist künftig Schluss. Ab 2022
müssen Rechtsanwälte zwingend das besondere elektronische Anwaltspostfach benutzen. Dann werden
sämtliche Schriftsätze ausschließlich elektronisch an das Gericht auf sicherem Weg übermittelt.
Quelle: BGH, Urt. v. 26.08.2021 - III ZB 9/21
Fundstelle: www.bundesgerichtshof.de
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11.08.2016 Obligatorische Einladung zum Vorstellungsgespräch?

Ein öffentlicher Arbeitgeber muss in der Regel einen schwerbehinderten Bewerber zum Vorstellungsgespräch einladen. Dass andere Bewerber ersichtlich besser qualifiziert sind, macht eine Einladung nicht ohne weiteres entbehrlich. Unterbleibt eine solche Einladung kommt eine Benachteiligung wegen der Behinderung und eine Entschädigung in Betracht. Dies hat das BAG entschieden.

Sachverhalt

Ein öffentlich-rechtlicher Arbeitgeber hat besondere Verfahrensvoraussetzungen bei der Einstellung neuer Mitarbeiter zu erfüllen. Das gilt insbesondere auch für schwerbehinderte Bewerber. Der Arbeitgeber dieses Falls war eine Stadt. Sie schrieb die Stelle eines „Techn. Angestellte/n für die Leitung des Sachgebiets Betriebstechnik“ für einen „Palmengarten“ aus. Folgendes Anforderungsprofil war in der Stellenausschreibung genannt: „Wir erwarten: Dipl.-Ing. (FH) oder staatl. gepr. Techniker/in oder Meister/in im Gewerk Heizungs-/Sanitär-/Elektrotechnik oder vergleichbare Qualifikation; …“.

Es bewarb sich ein ausgebildeter Zentralheizungs- und Lüftungsbauer sowie staatlich geprüfter Umweltschutztechniker im Fachbereich „Alternative Energien“. Er fügte seinem Bewerbungsschreiben einen ausführlichen Lebenslauf hinzu. Das besondere Problem des Falls: Er war schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50. Die Stadt lud den schwerbehinderten Bewerber allerdings noch nicht einmal zu einem Vorstellungsgespräch ein und entschied sich stattdessen für einen anderen Mitbewerber.

Daraufhin verlangte der schwerbehinderte Bewerber von der Stadt die Zahlung einer Entschädigung. Er stützte sein Begehren auf einen Verstoß gegen § 82 SGB IX. Dort heißt es in Bezug auf öffentliche Arbeitgeber wörtlich: „…Haben schwerbehinderte Menschen sich um einen solchen Arbeitsplatz beworben oder sind sie von der Bundesagentur für Arbeit … vorgeschlagen worden, werden sie zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Eine Einladung ist entbehrlich, wenn die fachliche Eignung offensichtlich fehlt…“

Die Nicht-Einladung zu einem Vorstellungsgespräch begründete nach Meinung des Schwerbehinderten die Vermutung, dass er wegen seiner Schwerbehinderung diskriminiert worden sei.

Die Stadt sah die Angelegenheit naturgemäß anders. Sie war der Auffassung, dass sie den schwerbehinderten Bewerber gar nicht habe einladen müssen, da er für die zu besetzende Stelle offensichtlich fachlich ungeeignet gewesen sei. Vor dem Arbeitsgericht erstritt der Bewerber eine Entschädigung i.H.v. drei Bruttomonatsdiensten, das LAG reduzierte die Summe auf einen Bruttomonatsverdienst. Schließlich musste das BAG entscheiden.

Wesentliche Aussagen der Entscheidung

Die Richter stellten sich ganz klar auf die Seite des Bewerbers. Da sie den schwerbehinderten Bewerber nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen hatte, hatte die Stadt die Vermutung begründet, dass dieser wegen seiner Schwerbehinderung aus dem Auswahlverfahren vorzeitig ausgeschieden und dadurch benachteiligt worden war.

Insbesondere war sie auch nicht von ihrer Verpflichtung entbunden, den Schwerbehinderten einzuladen. Die fachliche Eignung des Bewerbers fehlte jedenfalls nicht offensichtlich. Und in einem solchen Fall hätte eine Einladung zum Vorstellungsgespräch erfolgen müssen. Damit lag ein Indiz für eine Benachteiligung vor. Dieses konnte die Stadt nicht mehr entkräften.

Folgerungen aus der Entscheidung

Gerade öffentlich-rechtliche Arbeitgeber sollten bei jeder Stellenausschreibung eine Plausibilitätsprüfung durchführen, ob schwerbehinderte Bewerber zu Vorstellungsgesprächen einzuladen sind. Das ist nur dann nicht der Fall, wenn sie offensichtlich fachlich ungeeignet sind. Doch auch dieses wird der öffentlich-rechtliche Arbeitgeber im Zweifel darzulegen und zu beweisen haben.

Schon deshalb spricht vieles dafür, den Regelfall des Gesetzes auch als Regelfall für die Praxis umzusetzen: Schwerbehinderte Bewerber sollten stets zu Vorstellungsgesprächen bei Stellen öffentlich-rechtlicher Arbeitgeber eingeladen werden.

Praxishinweis

Ein schwerbehinderter Mensch, der bei seiner Bewerbung um eine Stelle den besonderen Schutz nach dem SGB IX in Anspruch nehmen möchte, muss die Eigenschaft, schwerbehindert zu sein, grundsätzlich im Bewerbungsschreiben mitteilen. Eine solche Mitteilung muss bei jeder Bewerbung erfolgen. Auf Erklärungen bei früheren Bewerbungen kommt es nicht an. Das sollten sich Bewerber gut überlegen. Denn der besondere Kündigungsschutz besteht für schwerbehinderte Menschen erst nach einer Betriebszugehörigkeitszeit von sechs Monaten.

Aber auch alle übrigen Arbeitgeber haben hier eine besondere Vorschrift zu beachten, die offensichtlich noch vielfach unbekannt ist: In jedem Fall ist die Bundesagentur für Arbeit bei der Stellenausschreibung mit einzubeziehen.

In § 81 SGB IX heißt es dazu: „… Die Arbeitgeber sind verpflichtet zu prüfen, ob freie Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen, insbesondere mit bei der Agentur für Arbeit arbeitslos oder arbeitssuchend gemeldeten schwerbehinderten Menschen, besetzt werden können. Sie nehmen frühzeitig Verbindung mit der Agentur für Arbeit auf…“

Fehlt es an einer Kontaktaufnahme mit der Bundesagentur, kann auch alleine dieses eine Benachteiligung darstellen – und zur Zahlung einer Entschädigungssumme verpflichten.

BAG, Urt. v. 11.08.2016 - 8 AZR 375/15